Caroline Gutberlet

Literaturübersetzung • Lektorat • Korrektorat

Französisch–Deutsch • Italienisch–Deutsch

Caroline Gutberlet

Literaturübersetzung • Lektorat • Korrektorat

Französisch–Deutsch • Italienisch–Deutsch

 

2020: „Extensiv-Initiativ-Förderung“ des Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Programms „Neustart Kultur“, gefördert aus Mitteln der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien

Nachfolgend können Sie meinen in diesem Zusammenhang verfassten „Sachbericht über die künstlerische Arbeit“ lesen (Lesedauer 18 Minuten). Hier können Sie ihn herunterladen.

Sachbericht über die künstlerische Arbeit
im Rahmen der Übersetzung des philosophischen Werkes
„Metamorphosen“ von Emanuele Coccia für den Hanser Verlag, München

Caroline Gutberlet, Berlin im Februar 2021

Ich schaue auf meine Kontoauszüge und kann es immer noch nicht fassen. Zum ersten Mal in dreißig Jahren wird eine Buch­übersetzung dank eines Stipendiums angemessen honoriert! All die letzten Jahre konnte ich es mir nicht leisten, mehr als ein Buch im Jahr für einen Verlag zu übersetzen, immer musste ich diese Arbeit durch zusätzliche, möglichst besser bezahlte Auf­träge und unzählige Überstunden finanziell flankieren. Was für eine Erleichterung, pekuniär unbeschwert ans Werk zu gehen! Was für eine schöne Anerkennung für drei Dekaden übersetzerische Tätigkeit, deren Schwerpunkt Sachbuch und Kunstessay, wenn überhaupt, weniger gefördert und ausgezeichnet wird als Literatur im engeren Sinne. Und was für ein Glück in Zeiten von Corona mit einem merklich ausgedünnten Auftragsvolumen!

Präliminarien
Per Mail flattert die Anfrage herein, ob ich den neuen Band von Emanuele Coccia übersetzen möchte. Keine Selbst­verständlichkeit heutzutage, dass ein Verlag bei einem Autor auch gerne bei derselben Übersetzerin bleibt. Das Buch ist als PDF angehängt, mit einem Stick marschiere ich umgehend zum Copyshop und blättere, wieder am Schreibtisch, den frisch ausgedruckten Stapel gespannt und konzentriert durch, jetzt geht es erst einmal um ein Ja oder Nein. Die Entscheidung fällt rasch: oh ja, von Herzen gern, aber es wird sehr viel Arbeit. Am Abend bis in die tiefe Nacht hinein und am ganzen nächsten Tag lese ich das Werk durch und versuche, mir einen genaueren Überblick zu verschaffen, um Argumente für meine Honorarvorstellung zu sammeln. Wichtige Begriffe und auf den ersten Blick „harte Nüsse“ werden auf einem Zettel festgehalten, Zitate farbig markiert. Das Ergebnis ist eindeutig: Es wird ein enormer Recherche­aufwand und wegen der Formelhaftigkeit der Sprache eine knifflige Angelegenheit. Beim Verhandlungs­gespräch fällt die Recherche­pauschale, die ich in anderen Fällen aushandeln konnte, zugunsten des nach Rücksprache mit dem Verleger ausnahmsweise um einen Euro erhöhten Seitenhonorars weg. Ich weiß jetzt schon, bei welchem Stundensatz ich landen werde: Unsere Putzperle im Büro verdient auf jeden Fall mehr. Andererseits gehört der Verlag zu den wenigen der Branche, die mich ab dem ersten verkauften Exemplar beteiligen: ein großes Privileg gegenüber den meisten Kollegen, denn auch bei kleineren Auflagen (wie bei den allermeisten Büchern) wird das realitätsferne Honorar im Nachhinein ein klein wenig aufgepäppelt. Der Vertrag soll mir in ein paar Tagen zugehen. Die Abgabe ist für ein halbes Jahr später angesetzt. Das ist gut, dann habe ich Luft und kann die Arbeit daran um die kofinanzierenden Projekte herum einplanen. Ich werde in zwei Monaten intensiv damit beginnen, so der Plan.

Der brutale Einstieg: die Leseprobe
Dann fällt ein kleiner Nebensatz: Ach ja, wir bräuchten übrigens in drei Wochen eine Leseprobe für die Vertreter*innen, Sie wissen schon, so um die zwölf Seiten plus Inhaltsangabe. Mir wird fast schwarz vor Augen. Wie soll das gehen? Wie soll ich, ohne mit der Materie vertraut zu sein, ohne den Inhalt, ohne die Sprache bis ins Kleinste durchdrungen zu haben, das Kniffligste – die Kapitel­überschriften und das Vorwort, die bis zum Schluss Baustelle bleiben – und noch ein paar Vertreter-Verkaufs­anreiz­häppchen in einer hochkarätigen Fassung vorlegen, zu der ich wirklich stehen kann? Doch jetzt heißt es konkret, Zeit freischaufeln zwischen den laufenden Aufträgen, also die Arbeitstage verlängern und aufs Wochenende ausdehnen. Ich lese das Buch noch einmal, diesmal fokussiert auf Auszüge, die repräsentativ sind, aber auch einladend, anregend und, ich gebe es offen zu, für mich am risikolosesten und ohne allzu großen Rechercheaufwand zu übersetzen.

Der Sprung
Nun, die Lektüre ist eine Sache, das Übersetzen eine andere. Schon immer erfasst mich dazwischen eine große Unruhe, als stünde ich vor einer Bewährungsprobe, Zweifel plagen mich, ob ich der Herausforderung gewachsen bin, gleichzeitig kann ich es kaum erwarten, anzufangen, und doch hält mich etwas davon ab. Übersetzen ist immer auch eine Reise durch ein fremdes Land, mitunter befremdend bis befremdlich, durchaus fremdbestimmt, ein Arbeiten auf Anleitung, ein demütiges Dienen, eine echte Plackerei. Zwei Tage lang tigere ich herum und irgendwann zwinge ich mich an den Schreibtisch. In einem anderen Jahrhundert hätte ich mich vielleicht an den Stuhl gefesselt, oder wie Odysseus an den Mast, um keiner weiteren Versuchung zu erliegen. Eine Klausur bleibt es allemal: Jetzt begebe ich mich wie unser Schutzpatron ins Gehäus. Dieser Moment ähnelt, ohne anmaßend sein zu wollen, etwas, das ich dank einer anderen Übersetzung kennenlernen durfte, wiewohl in einem ganz anderen Zusammenhang. Søren Kierkegaard nennt es den „metaphysischen Sprung“. Der Mensch springt vom Zweifel in den Glauben. Auf mich bezogen heißt das: Ich glaube, dass ich eine deutsche Entsprechung zu schaffen imstande sein werde. Genauer, ich muss daran glauben. Damit sind meine Zweifel freilich nicht ausgeräumt. Im Gegenteil, sie sind verdammt hartnäckig, auch noch über das gedruckte Buch hinaus. Doch genug. Blick auf den ersten Satz! Spring! Zweifel und Glaube sind wie Seil und Stange über der Leere. Sie halten mich. Sie sind Ansporn. Fieberhaft beginne ich zu tippen.

Die Bibliothek des Buches als Rüstzeug
Durch die Leseprobe sind es genaugenommen zwei Sprünge in medias res mit ein paar Monaten dazwischen. Der erste Sprung gleicht einem ins kalte Wasser bei unklarer Sicht. Ich bin mit dem Buch durch meine zweifache Lektüre zwar schon etwas vertraut, es fehlen mir aber die Sachkenntnisse und die Grundlagen für meine sprachlich-stilistischen Entscheidungskriterien. Der zweite, also der eigentliche Sprung, erfolgt viel später, und dafür brauche ich Absicherungen: ein Terrain, auf dem ich mich sicher bewegen kann, den für das Buch bestimmenden intellektuellen Horizont des Autors, möglichst viele Wegmarken, und die geben mir die zahlreichen Zitate und der üppige Quellenapparat. Nun stehen mehrere Schritte an. Erst muss die Original-PDF in eine Worddatei umgewandelt und daraus eine fürs Auge angenehme, arbeitsfähige Vorlage formatiert werden. Danach erstelle ich eine separate Datei mit den Quellen aus dem angehängten Apparat. Dazu ist anzumerken, dass es keine Fußnoten im Fließtext gibt und die Zitate keine genauen Quellenangaben haben, was einen zusätzlichen enormen Aufwand bedeuten wird, da ich ganze Bücher überfliegen muss. Auch enthalten die Quellen nicht durchgängig alle Informationen, es gibt hier also Verbesserungsbedarf. Nun beginne ich die Quellen selbst zu recherchieren, ergänze oder berichtige sie, suche parallel nach deutschen Ausgaben (oder Originalausgaben, wenn die französische Quelle eine Übersetzung ist) und schaue immer wieder in den Text, um zu sehen, ob die Quelle zitiert wird. Bei älteren Werken sind Digitalisate eine wundervolle Erfindung, allerdings ist die Qualität der oftmals stark vergilbten Bücher aus dem 17. bis 18. Jahrhundert, zumal bei dicken Ausgaben, eine grauenhafte Zumutung für die Augen, nicht selten versinken die Innenseiten in Dunkelsepia bis Schwarz und ist nur zu erahnen, was da steht, erst recht, wenn einem die Schrifttype nicht geläufig ist. Prominente Zitate finden sich manchmal im Netz, oft sind sie aber mangels genauer Quellenangabe nicht zu gebrauchen. Der Blick in das physische Buch ist und bleibt die Regel und ein Muss. Bücher mit längeren Zitaten, die nirgends zu finden sind, bestelle ich über das ZVAB oder bei meiner Buchhändlerin direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite. Coronabedingt waren die öffentlichen Bibliotheken meistens geschlossen, sodass ich noch mehr Bücher bestellt habe als sonst. Ist einmal die kleine „Buch-Bibliothek“ zusammengestellt, wird sie die nächsten Wochen zu meiner Abend- und Wochenendlektüre. Die gefundenen Zitate kommen in meine Arbeitsdatei mit genauen Quellenangaben in Fußnoten für die Lektorin, damit sie auf einen Blick sieht, wo sie eingreifen darf und wo nicht (und versehen mit dem Hinweis, dass vielleicht Rechte eingeholt werden müssen). Nach dem Lektorat werden all diese Fußnoten gelöscht. Parallel wiederum entsteht eine schön übersichtlich angelegte Datei mit Fragen an den Autor. Sie betreffen vor allem Fälle, bei denen ich trotz mehrmaligen Querlesens der Werke die entsprechenden Zitate nicht finden konnte, sowie Zitate, die Übersetzungen aus dem Englischen sind und bei denen ich das Original brauche, da ich Weiterübersetzungen ablehne. Diese Liste wird im Laufe der Zeit aufgrund weiterer Rechercheerfolge immer kürzer. So muss es auch sein, denn der Autor hat erfahrungsgemäß keine Zeit. Ein Grund mehr, diese Quellenarbeit vorzuziehen, um ihm die Liste frühzeitig vorzulegen. Nun, nachdem ich einmal durch sämtliche Quellen durch bin, schon mehrere Bücher zumindest quergelesen habe und der Großteil der Zitate steht, habe ich einen Einblick in die Bandbreite der Materie erhalten, aus der der Autor schöpft, um etwas Neues zu entwerfen. Parallel sind auch Listen mit Vokabular entstanden, deutsche Original-begriffe, französische Fachbegriffe und ihre Rezeption im Deutschen, aber auch Wendungen und vor allem Verben, denn die bereiten mir häufig die meisten Schwierigkeiten. Die Quellen und ihre Lektüre geben mir inhaltliche und sprachliche Anhaltspunkte. Sie bilden mein Rüstzeug. Aber nicht ausschließlich. Parallel greife ich zu zeitgenössischen deutschsprachigen Büchern und Artikeln, von denen ich mir Inspiration erhoffe, auch Mut zu Neuschöpfungen und Zufallsfunde. In diesem Fall ist mir Harmut Rosas brillanter Essay Das Unverfügbare ein Vorbild gewesen und hat mir sprachlich den Rücken gestärkt. Mit diesem Rüstzeug im Gepäck kann die eigentliche Übersetzungsarbeit beginnen.

Spezifität des Textes
Es würde zu weit führen, wenn ich auch nur einen Teil der zu lösenden Problematiken hier schildern wollte. Deshalb werde ich mich auf einige wenige beschränken. Philosophische Texte zeichnen sich durch Stringenz und Genauigkeit aus. So lautete die Regel Nummer 1, die ich mir gleich zu Anfang gesetzt habe: Derselbe Begriff, dieselbe Wendung wird immer gleich übersetzt. Das galt umso mehr, als die Sprache des Autors sehr formelhaft ist und er Wiederholungen als rhetorisches Mittel einsetzt. Diese Regel habe ich bis zum Ende des ersten Durchgangs konsequent eingehalten, wobei punktuell alternative Begriffe im Raum standen, die sich aus der deutschen Geistestradition ergeben, wie auch die Lektüre der Quellen gezeigt hat. Beispiele: Für Metamorphose als zentralem Begriff kann je nach historischem, zitiertem oder sachlichem Kontext Verwandlung oder sogar Wandel treffender sein; „forme“ ist oft mehr die Gestalt oder sogar die Gestaltung als die Form; für „chair“ stand neben dem heute unüblichen Fleisch (und Blut) auch der Leib zur Debatte. Manche Begriffe, zu denen auch die Evidenz für „évidence“ zählte, waren bis zur Abgabe mit einem Fragezeichen versehen und wurden auch noch durch das Lektorat in Frage gestellt; das letztlich ausschlaggebende Argument war der philosophische Gehalt, der eben nicht mit der allgemeinsprachlichen Bedeutung des Offenkundigen oder Selbstverständlichen deckungsgleich ist. Zur Formelhaftigkeit zählen auch die hundertfach mit „tout“ oder „chacun“ beginnenden Sätze. Hier galt es jedes Mal neu zu überlegen, ob alle, alles, jedes, ein jedes, jedwedes oder ein biblisch anklingendes ein jegliches die bessere Wahl wäre. Diese Feinarbeit hat sich bis in die zweite und die dritte Lektüre der fertigen Übersetzung hingezogen, begleitet von etlichen Suchläufen im Original und in der deutschen Fassung, um ein Höchstmaß an Gleichbehandlung zu erreichen. Nicht zu vernachlässigen bei der Entscheidungsfindung waren auch die in zurückliegenden Übersetzungen gewonnenen Kenntnisse und Einblicke, insbesondere beim Vorgängerband des Autors. Nun fiel mir die Unterscheidung zwischen Form und Gestalt relativ leicht, die im Übrigen dem deutschen Text eine zusätzliche Reliefierung verleiht, die das Original nicht hat.
So klein das Wort, so groß seine Wirkung und Bedeutung, die Rede ist vom Artikel. Dort, wo er im Französischen immer stehen muss, gibt es im Deutschen oft zwei Möglichkeiten mit unterschiedlicher Bedeutung. Erschwerend kommt hinzu, dass ein bestimmter Artikel im Französischen unter Umständen einen höheren Abstraktionsgrad durch den deutschen unbestimmten Artikel erhält. La chose wird zu einem Ding, das für alle steht. (An dieser Stelle nur der kurze Hinweis, dass auch bei jedem Plural im Französischen zu überlegen ist, ob der Singular im Deutschen nicht griffiger, abstrakter ist: Les choses = Ein Ding wird …) Jedenfalls hat die Frage, ob Artikel ja oder nein, und wenn ja, bestimmt oder unbestimmt, mich in der zweiten Lektüre noch einmal intensiv beschäftigt. Das Gleiche gilt für den Doppelpunkt, der geradezu inflationär, aber eben im Französischen sehr elegant mit dem Leerzeichen davor und danach gesetzt wird, also eher als durchlässiges Brückchen mit Spiegelungseffekt denn als Gewichtiges einleitendes Etwas wie im Deutschen. Bis zur Umbruchkorrektur habe ich ihn im Auge behalten und er ist nicht selten zum Punkt geworden, der die nachfolgende Aussage gleichwertig für sich stehen lässt (was dem Original am nächsten kommt). Nicht einen Moment kam für mich der heute so beliebte und ein bisschen nach akademischer Sprach- und Denkfaulheit müffelnde Gedankenstrich in Frage.

Mängel des Originals
Bei einem Text, der so nah am Wort ist, wo nichts dem Ungefähren überlassen ist, fällt es schwer zu glauben, dass es zu Nachlässigkeiten kommt, wenn auch nur gelegentlich und insgesamt in geringer Zahl: Tippfehler, Interpunktionsfehler, kleinere Redundanzen, einige aufgrund grammatikalischer Fehler unverständliche Sätze. Letztere kamen auf meine Liste mit den Quellenfragen an den Autor. Sie wurden bis heute nicht beantwortet. Jedenfalls nicht direkt. Die von mir unterbreiteten Vorschläge werden nicht ganz abwegig gewesen sein, sonst hätte es spätestens bei der Umbruchkorrektur ein Echo dazu gegeben. Ein Satz, der irgendwie verloren dastand, ohne Bezug und Zusammenhang, auf den sich die Lektorin ebenfalls keinen Reim machen konnte, haben wir uns erlaubt zu streichen.

Eine unangenehme Überraschung
Wider besseres Wissen musste ich mit der Übersetzung beginnen, obwohl sich schon mehrfach gezeigt hat, dass PDFs, obwohl „final“ im Namen steht, mit der Buchfassung nicht automatisch identisch sind. Wiederholt habe ich den Verlag bekniet, mir das gedruckte Werk zur Verfügung zu stellen, das allein verbindlich ist. Es hat viele Wochen gedauert, bis das Gewünschte endlich auf dem Schreibtisch lag. Ich habe ein mulmiges Gefühl, als ich das Buch aufschlage, und leider bestätigt sich meine ungute Ahnung. Eine Heidenarbeit beginnt, Zeile um Zeile, Wort um Wort gleiche ich die Leseprobe und die ersten Kapitel mit dem Original ab. Manchmal ist es ein einziges Wörtchen, manchmal ein anderer grammatikalischer Bezug, mal auch nur ein Komma oder ein Strichpunkt. Am Ende werden es drei Durchgänge gewesen sein, bis die Abweichungen von PDF und Buch in der Übersetzung korrigiert sind, zum Teil mit größeren Satzumbauten verbunden, mit einem Neu-Denken allemal. Diese Arbeit hätte ich mir gerne erspart.

Reality Check: das wertvolle Feedback der Kolleg*innen vom Übersetzerstammtisch
Coronabedingt dürfen wir – das ist der vierzigköpfige Stammtisch der deutschen und französischen Literaturübersetzer*innen zu Berlin – uns nicht im geschlossenen Raum treffen, draußen und in kleiner Zahl in gebührendem Abstand aber schon. Dank des Gartens hinter dem Mietshaus trifft sich eine handverlesene Kollegschaft im August rund um eine lange Tafel früher als sonst, um für ein paar Stunden genug Licht zu haben. Bei unseren monatlichen Treffen pflegen wir Ausschnitte aus laufenden Übersetzungen zur Diskussion zu stellen, und so habe ich meinen fünf Kolleginnen, darunter eine Französin, vier Auszüge vorgelegt, die unterschiedliche Facetten des Buches in thematischer und sprachlicher Hinsicht repräsentieren. Die Übersetzung ist schon recht weit fortgeschritten, aber an manchen Stellen bin ich noch unzufrieden oder unsicher. Es ist immer wieder erstaunlich, an wie vielen Dingen der professionelle genaue Blick beim Messen der Übersetzung am Original bis ins feinste Detail und auf die Übersetzung selbst hängen bleibt, und das in fünffacher Lesart. Stellen, die ich für gut befand – oder zu denen ich keine Alternativen vor Augen hatte –, stoßen auf Kritik. So kommen zu dem Satz „Ich habe vergessen, so wie jede*r von uns.“ zwei Gegenvorschläge: „Wie jede*r von uns habe ich vergessen.“ und „Ich habe, wie jede*r von uns, vergessen.“ Anregung genug, um im stillen Kämmerlein noch einmal darüber nachzudenken. Jetzt steht im Buch (und das habe ich im allerletzten Durchgang kurz vor Abgabe geändert): „Ich habe, wie wir alle, vergessen.“ Der wohlwollende Fingerzeig der Kolleginnen richtet sich auf halb schiefe Bilder, unscharfe Stellen und stilistische Mängel (statt „wach werden“ besser „erwachen“) oder auch Substantiv- und Mehrfachgenitiv-Konstruktionen, die schwer verständliche Ungetüme bilden. Neben konkreten alternativen Lösungsvorschlägen ist der wertvolle Effekt dieser professionellen Übersetzungskritik, dass mein Blick (in diesem Fall fünffach) für Dinge geschärft worden ist, die ich nicht mehr hinterfragt habe. Mehr noch, so ist eine Distanz zum eigenen Tun entstanden und damit ein größerer kreativer Raum, und mein Blick auf den Text hat sich verändert und erweitert.

Ein immer präsentes Entscheidungskriterium
Schon während der Vorarbeiten mit Quellenrecherchen, Quellenlektüren und inspirierenden Parallellektüren und erst recht im Laufe des Übersetzungsprozesses, aber auch bis weit in das Selbstlektorat und sogar noch in die Umbruchkorrektur hinein kristallisiert sich ein Bündel von Kriterien heraus, die für sprachliche und stilistische Entscheidungen ausschlaggebend sind. Doch über diese textimmanenten Kriterien hinaus spielen noch weitere Kriterien oder Parteien, wie Umberto Eco sie nennt, eine Rolle. Eine Übersetzung ist letztlich immer das Ergebnis eines komplizierten Verhandlungsprozesses und die Übersetzerin eine Verhandelnde. Doch was gibt den Ausschlag, wenn Parität herrscht? Dafür gibt es keine Regel und eine goldene erst recht nicht. Eines steht mir aber immer vor Augen, wenn es knifflig wird. Genauer, es ist ein ganzes lesendes Dorf. In diesem Fall besteht der Ältestenrat, man könnte es auch Schiedsgericht nennen, aus dem Autor, der als Philosoph sehr gut Deutsch kann, meiner Lektorin im Verlag und einigen sehr geschätzten kritischen Freund*innen und Kolleg*innen. Die übrigen Bewohner sind die interessierten potenziellen Leserinnen und Leser. Ich übersetze immer für sie.

Schöne Kollateraleffekte und ein Anekdötchen
Einer der Gründe, warum ich meinen Beruf so liebe, und gerade die Geisteswissenschaften und die Künste, in denen ich hauptsächlich tätig bin, ist nicht nur, dass ich auf der Welle der Vordenker und Vorreiterinnen schwimme, sondern auch, dass ich nolens volens ständig mit neuem Gedanken-, Kultur- und Sprachgut in Berührung komme. Was für eine Bereicherung, auch wenn die Zeit nicht reicht, allem auf den Grund zu gehen. Die Bibliothek wächst mit jedem übersetzten Text und bald brauche ich noch hundert Jahre Lebenszeit zusätzlich geschenkt, um all die Schätze zu lesen, die ich ohne meine Übersetzungen nie entdeckt hätte. Ein Schatz ganz anderer Art, aber ebenso wertvoll, war eine Verlagsmitarbeiterin. Mein Autor zitiert an einer Stelle prominent Voltaire. Wie meine Recherchen ergeben, wird das Werk, aus dem es stammt, in diesem Augenblick erstmals übersetzt. Was für ein Glück, allerdings liegt der Erscheinungstermin ein paar Monate nach Abgabe meiner Übersetzung. Kann ich mich trauen, im Verlag anzurufen? Ich habe schon ein paar Mal Kontakt zu Kollegen aufgenommen, wenn ich auf der Suche nach Zitaten aus Büchern war, die sie übersetzt hatten. Die Dame am Empfang hört sich mein Anliegen an und stellt mich, wie sich später zeigt, zur Rechteabteilung durch. Ich trage mein Anliegen noch einmal vor, die Dame am anderen Ende ist aber die ganze Zeit so mucksmäuschenstill, dass ich nach einer Weile ganz verunsichert nachfrage, ob sie noch in der Leitung sei. Dabei war sie nur pragmatisch. Kaum, dass ich fertig war, bat sie mich um meine Mailadresse und kündigte die Zusendung des Umbruch-PDFs an unter der Maßgabe, dass ich dieses nur für den genannten Zweck verwenden dürfe. Innerhalb von fünf Minuten war ein Problem, das mir über Monate nicht aus dem Kopf ging, so leicht gelöst, wie kein Buch es getan hätte.

Drei Lektüren vor Abgabe
Der letzte Satz steht. Im Verlauf der Übersetzung habe ich unzählige Suchläufe gemacht, wenn sich eine neue Lösung abzeichnete, und immer zuerst den Abschnitt vom Vortag aufmerksam gelesen. Nun der erste Ausdruck: Zeile für Zeile und Wort für Wort gleiche ich mit dem Original ab, um sicherzugehen, dass mir nichts durchgerutscht ist und ich im Eifer des Gefechts ein Wort für ein anderes gehalten habe. Eingabe der Änderungen, zweiter Ausdruck: die erste freie Lektüre, losgelöst vom Original, der Text muss für sich stehen; im Kopf und auf Listen noch zig Wendungen mit Fragezeichen. Satzfolge, Logik, Rhythmus sind einige Kriterien. Eingabe der Änderungen, was manchmal zu neuen Änderungen führt, Suchläufe, sacken lassen, Abstand gewinnen. Dritter Ausdruck: laute Lektüre im Gehen, da zeigen sich kolloquiale Mängel, holprige Wortstellungen, Redundanzen. Viele entscheidende Kleinigkeiten: aus „bewegen“ wird „rühren“, aus „Kondensat“ ein „Konzentrat“, „wir alle sind“ wird zu „wir sind alle“ und am Ende ist die Metamorphose eine statt die Eigenschaft von Körpern. – Nun gebe ich ab. Ich freue mich auf den frischen Blick der Lektorin.

Nachschläge
Viele Wochen später liegt das Lektorat vor: sehr gute Änderungsvorschläge und manche, die mich zum Neu-Eindenken fordern, bei denen ich um Alternativen oder Begründungen für meine Fassung ringe. Die Zweifelsfälle besprechen wir in einer hochkonzentrierten zweistündigen Sitzung am Telefon. Erste Umbruchkorrektur, neue Fragen seitens des Korrektorats, wieder neu eindenken und jedes Wort und Komma begründen. Zweite Umbruchkorrektur, endlich hat der Autor auf meine Liste reagiert; mir wird suggeriert, dass ich seine Eingaben weder ablehnen noch verändern darf, mir bleibt nur, die orthografischen Fehler zu korrigieren. Bei diesem letzten Schritt fällt meine schöne „Graviditätskraft“ dem Ungetüm „Schwangerschaftskraft“ zum Opfer. Der Autor hat das letzte Wort.

Es ist zum Reflex geworden. Das macht die jahrzehntelange Übung. Ich schaue auf mein akribisch geführtes Zeitkonto. Aber nein. Dieses Mal komme ich nicht unter den Stundensatz unserer Putzperle. Er liegt mehr als doppelt so hoch wie sonst. Er ist angemessen! Heute ist das Opus druckfrisch mit der Post gekommen, mehrere Wochen vor dem Erscheinungstermin. Ich traue mich kaum, es aufzuschlagen, zu groß sind die Bedenken, dass ich als Erstes über eine unglückliche Stelle stolpern und mich ärgern könnte. Ich lasse es noch ein paar Tage im Schaufenster liegen … Wenn ich sparsam bleibe, kann ich die nächsten zwei Monate entspannt angehen und muss nicht alles annehmen, was reinkommt. Dreißig Jahre Arbeit und eine großzügige Förderung. Was für ein Segen. Danke.